Europas Herausforderungen und neue Chancen
Die europäische Leistungsbilanz ist ein wichtiger Spiegel für das Wohlergehen der Europäischen Währungsunion. In prosperierenden Zeiten ist die Bilanz für die ganze Region deutlich im Plus, wie das beispielsweise von 2013 bis 2022 der Fall war. Nach Überwindung der europäischen Schuldenkrise und mit Einführung der Sanierungsmassnahmen in diversen hoch verschuldeten Ländern hat sich auch die Handelsbilanz verbessert. Die erfolgreichen Exporteure wie Deutschland oder die Niederlande verbuchten weiterhin starke Einnahmen aus ihrem Exportgeschäft, während die hoch verschuldeten Länder zumindest ihre zuvor negative Handelsbilanz ausgleichen konnten.
Mit dem Handelsbilanzüberschuss kann die Umverteilung innerhalb der Währungsunion ziemlich elegant finanziert werden, ohne dass sie einen direkt spürbaren Einkommensverlust bei den Haushalten und Unternehmen in den Überschussländern generiert. Mit anderen Worten: Laufen die Wirtschaft und die Exporte rund, dann gilt das ebenfalls für die auf Subventionszahlungen angewiesene Währungsunion. In einer solchen Situation kann der Euro gut aufwerten. Die Einheitswährung hat nicht den gleichen Status einer Reservewährung wie der US-Dollar. So können die USA – im Unterschied zur Eurozone – ihr notorisches Handelsbilanzdefizit über den Verkauf von US-Treasuries und Aktien ans Ausland finanzieren. Solange die Welt mehr US-Dollar halten will, können die USA auf Pump leben, doch für Europa funktioniert dieser Mechanismus leider nicht; ein starker Euro bedingt sozusagen mechanisch starke Exporte.
In dieser Hinsicht stellten die letzten Jahre eine grosse Herausforderung für die Eurozone dar. Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine machten die Situation in verschiedener Hinsicht schwierig. In der ersten Phase der Pandemie funktionierte die Umverteilung dank der expansiven staatlichen Massnahmen. Zudem war die Eurozone etwas bedachter mit den Staatsausgaben als die USA, wo Unterstützungsgelder unmittelbar mit der Giesskanne verteilt wurden. Die Folge war eine kräftige Erholung der Aktienmärkte und ein schwächerer US-Dollar. Der Euro konnte in der ersten Phase der Pandemie relativ zum US-Dollar zulegen, aber der Dollar erstarkte später wieder. US-Zinserhöhungen, eine restriktivere US-Fiskalpolitik und der Krieg in der Ukraine, der die lukrativen Geschäftsbeziehungen mit dem Osten einschränkte, waren wichtige Treiber.
Der Euro wird üblicherweise geschwächt, wenn sicherheitspolitische Bedenken die Märkte beunruhigen, die Inflation in der Eurozone nicht richtig unter Kontrolle kommt und gleichzeitig die Exporte schwach sind. Die ungünstigste Konstellation dieser drei Faktoren trat letzten Herbst ein. Seither bemüht sich die Europäische Zentralbank mit Nachdruck, die Inflation zu bekämpfen. Gleichzeitig ist die Handelsbilanz dank besserer Versorgungssicherheit mit Gas ins Plus gerutscht. Der letzte Faktor, der jetzt noch fehlt, um dem Euro einen längerfristigen Durchbruch zu ermöglichen, ist ein starkes globales Wachstum, das der Industrie stärkere Exportzahlen beschert. Die Erholung der Einheitswährung seit letztem Herbst ist zwar eindrücklich, hat aber noch deutlich mehr Potenzial bis zum Jahresende.