Im Jahr 2017 gründete ich ein Klassiklabel und gab ihm den Namen SCHWEIZER FONOGRAMM. «Antizyklische Entscheidung!», meinte ein Bekannter, der sich bei Start-ups auskennt. «Ein CD-Label in Zeiten von Spotify & Co?», war eine andere Einschätzung. Ursprünglich wollten wir das Label Schweizer Grammophon nennen, bis uns ein deutsches Anwaltsbüro mit einer Klage beim Europäischen Gerichtshof drohte, denn «Grammophon» sei ein geschützter Name jenes Labels mit dem gelben Etikett. «Fonogramm» liessen sie gerade noch so durchgehen, wir passten das Logo an und liessen die ersten beiden CD-Produktionen mit dem alten Namen einstampfen … So weit meine ersten unternehmerischen Gehversuche.

Mittlerweile gehört Schweizer Fonogramm zu den wichtigsten Schweizer Exportfirmen im Klassikbereich. Auf dem Logo sieht man die Silhouette der beiden Mythen von Schwyz, dem Ort meiner Kindheit und Jugend. Im Nachhinein wissen wir: Es war eine gute Entscheidung, vor allem Schweizer Kompositionen einzuspielen; viele Klassikmagazine, Radiokanäle und Onlineredaktionen in ganz Europa und Übersee loben unsere Mission, haupt­sächlich vergessen gegangene helvetische Komponisten aufzunehmen oder als Weltersteinspielungen sogar zu deren Entdeckung beizutragen. Es ist uns gelungen, sechs (!) vollendete Sinfonien des Neuen­burgers Joseph Lauber oder die wichtigste Schweizer Oper der Romantik, «Samson», des Schwyzers Joachim Raff (1822 – 1882) für den Klassikweltmarkt zu produzieren. Ohne diese Aufnahmen würden die Partituren weiterhin in Archiven oder Estrichen verrotten, nun können sie auf der ganzen Welt gehört werden. Bald erscheint das sinfonische Werk des Aargauer Komponisten Dieter Ammann (*1962) mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter Jonathan Nott, und der Brunner Komponist Othmar Schoeck (1886–1957) erhält eine Hommage: Der international renommierte Cellist Maximilian Hornung nimmt mit dem Zürcher Kammerorchester zusammen dessen Cellokonzert auf. 

Unser Label steht für höchste technologische und künstlerische Qualität, für edle Anmutung, Präzision in Klang und Interpretation, mit einem starken Akzent auf Swissness. Es sind typisch schweizerische Exportattribute, wie man sie auch im Stahlbau, in der Pharmazeutik, der Schokoladen- oder der Uhrenindustrie besonders schätzt. Ebenfalls lässt sich der Produktionsaufwand unserer Tonträger mit Prozessen aus anderen Exportbereichen vergleichen. Eine Studioaufnahme besteht aus einem ausgeklügelten System von Arbeitsprozessen: Von der Terminorganisation aller Beteiligten bis zur Werkwahl, von der Raummiete bis zum Equipment, von der künstlerischen Interpretation über die Aufnahmeleitung bis zur Postproduktion und zur Fertigstellung der Aufnahme mit Partnerunternehmen vergehen mehrere Monate, vom Fundraising ganz zu schweigen. Bis ein Klassikfan in Japan oder auf Hawaii sich die Aufnahme mit einem Klick auf die Play-Taste anhören darf, müssen unzählige Entscheidungen getroffen und Fragen geklärt werden: Welche Interpreten eignen sich besonders für welches Repertoire? Welcher Saal hat die idealen akustischen Bedingungen für ein Werk aus dem Mittelalter oder für die Weltersteinspielung einer zeitgenössischen Komponistin? Welches Instrumentarium entspricht dem Willen des Komponisten aus längst vergangener Zeit? Benutzt man historisch verbriefte Darm- oder moderne Metallsaiten für den Streichersatz? Welche Anmutung wählen wir für das Cover, welche Marketingstrategie wenden wir an? Welche Stiftung könnte sich für die Aufnahme eines völlig unbekannten Schweizer Werks interessieren? Welche öffentliche Hand wäre bereit, das musikalische Kulturerbe unseres Landes zu unterstützen? Welche Sponsoren erwärmen sich überhaupt noch für die Klassik?

Ein erstaunliches Phänomen der Schweiz ist ja (zumindest in der Musik), dass sie ihre eigene Historie nicht kennt. Niemand weiss mehr, dass es um 800 einen St. Galler Mönch gab, der Musikgeschichte schrieb. Auch die Namen Gaspard Fritz, Paul Juon, Theodor Fröhlich, Emile Jaques-Dalcroze oder Caroline Boissier-Butini sagen den Eidgenossen nichts, während sie natürlich bei Vivaldi, Mozart und Beethoven aufhorchen. Das wäre etwa so, als wenn die aktuelle Victorinox-AG-Belegschaft nicht mehr wüsste, dass ein gewisser Karl Elsener 1884 in seiner Ibächler Messerschmiede die zündende Idee für ein Taschenmesser hatte (ich kenne als Schwyzerin die Messerschmitte sehr gut und ging mit einer Nachfahrin des Gründers zur Schule).

Vielleicht kann man die Frage auch anders stellen: Ist Schweizer Musik als Tonträger und digitaler Download ein Luxusartikel oder das dringend notwendige Zeugnis einer klingenden Tradition? La Suisse n’existe pas hiess es im Schweizer Beitrag von Ben Vaultier an der Weltausstellung 1992 in Sevilla: Meiner Meinung nach könnte man diese Aussage leicht abändern: «Doch, doch, die Schweiz existiert, und sie hat sogar einen Sound!» 

Fotografien: Magali Dougados