Lateinamerika: «Wenn nicht jetzt, wann dann?»
Lateinamerika wird bei uns Schweizer*innen häufig mit Strandferien, Fussball und Samba in Zusammenhang gebracht. Leider auch mit Korruption und Drogenhandel. Diese plakativen Bilder spiegeln aber nur einen Teil der Realität und halten viele Firmen davon ab, das Potenzial der Region richtig einzuschätzen.
Lateinamerika und die Karibik bestehen aus 33 Ländern, und deren Bevölkerung umfasst über 650 Millionen Menschen. Die Region verfügt über bemerkenswerte Stärken: eine junge arbeitswillige Bevölkerung, enorme Rohstoffvorkommen und reichhaltige Energieressourcen sowie eine grosse biologische Vielfalt.
Mit seinen riesigen Lithium-Vorkommen und idealen Bedingungen für die Herstellung grünen Wasserstoffs spielt Lateinamerika eine Schlüsselrolle in unserer Energiewende und der Transition zur Elektromobilität.
Auch die geografische Nähe zu den USA, die Deutschland als wichtigsten Schweizer Exportmarkt abgelöst haben, macht die Region zunehmend interessant. Die herkömmliche Weltordnung erfährt tiefgreifende Veränderungen, die sich darauf auswirken, wie Unternehmen weltweit operieren. Die Erschliessung alternativer Märkte erhält plötzlich eine neue Dringlichkeit, ebenso wie die Verlagerung der Produktion und der Lieferketten in die Regionen.
Lateinamerika ist ideal positioniert, um diesen sich wandelnden Dynamiken gerecht zu werden. So beobachten wir eine massive Zunahme an ausländischen Firmen, die einen Teil ihrer Produktion von Asien in die Nähe der USA – insbesondere nach Mexiko – verlagern, um ihre Kunden schneller und dank Freihandelsabkommen USMCA günstiger beliefern zu können. Dieser sogenannte Nearshoring-Boom wächst rasant, wie man vor allem im Norden Mexikos eindrücklich beobachten kann.
Leider stelle ich im Gespräch mit Schweizer Firmen häufig fest, dass dieser Trend hierzulande massiv unterschätzt wird. Viele Firmen sehen keinen dringenden Handlungsbedarf, sondern setzen weiter eingleisig auf China als globalen Produktionsstandort und riesigen Absatzmarkt in der Hoffnung, dass die goldenen Jahre der Vergangenheit sich dort auch in Zukunft fortsetzen werden. Man schenkt Mexiko und Lateinamerika zu wenig Beachtung und verpasst eine einmalige Chance, sich dort strategisch für den US-Markt zu positionieren. Lokale Firmen, die Interesse an einer Partnerschaft, einem Joint Venture oder sogar einer Übernahme zeigen, werden von Schweizer Firmen zu wenig ernst genommen oder aufgrund langsamer interner Entscheidungsprozesse über lange Zeit hingehalten.
Die Folge sind verpasste Chancen, denn diese Firmen werden von vielen Seiten umworben und können sich ihre Partner aussuchen. Es gibt aber durchaus Schweizer Firmen, die die Chance rechtzeitig erkannt und gehandelt haben, wie die Beispiele in dieser Ausgabe zeigen.
Der Aufbau einer langfristig erfolgreichen Präsenz in Lateinamerika braucht jedoch Geduld. Komplexe regulatorische Anforderungen machen den Markteintritt zeitraubend. Zudem ist die Geschäftskultur sehr beziehungsbasiert, weshalb man gut beraten ist, sich für die Auswahl von Partnern und Mitarbeitern sowie die Pflege enger persönlicher Beziehungen genug Zeit zu nehmen. Durch die Zusammenarbeit mit lokal erfahrenen Beratern und Dienstleistern können ausländische Firmen Risiken vermeiden und viel Zeit sparen. Diese Investition lohnt sich, wie ich aus 15 Jahren Geschäftstätigkeit in Lateinamerika bestätigen kann.
Im Oktober fand in Stuttgart der jährliche Lateinamerika-Tag statt, die wichtigste deutschsprachige Plattform, die sich den Wirtschaftsbeziehungen zu dieser Region widmet. Das Motto lautete treffend: «Lateinamerika: ‹Wenn nicht jetzt, wann dann?›». Der Tenor des Anlasses, an dem hochrangige Vertreter aus Wirtschaft und Politik teilnehmen, war, dass Lateinamerika in der aktuellen geopolitischen Lage folgende fast einmalige Vorteile bietet:
1. Politische Stabilität: Im Gegensatz zur gängigen Meinung weist Lateinamerika mehr politische Stabilität auf, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Während andere Weltgegenden von bewaffneten zwischenstaatlichen Konflikten erschüttert werden und ganze Märkte dadurch wegbrechen, ist Lateinamerika von solchen Ereignissen seit Jahrzehnten verschont geblieben. Auch politisch umkämpfte Machtwechsel der letzten Jahre, zum Beispiel in Brasilien, Chile, Kolumbien oder Peru, passierten verfassungsgemäss und weitestgehend problemlos.
2. Freihandel: Die meisten Länder der Region sind dem Freihandel verpflichtet und setzen auf eine Vielzahl von Freihandelsabkommen (FHA). Die Schweiz hat FHA mit sieben Ländern, darunter Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, und ist als EFTA-Staat in Verhandlungen mit Mercosur (Brasilien, Brasilien, Uruguay, Paraguay). Schweizer Firmen erhalten dadurch vereinfachten Marktzugang.
3. Wertegemeinschaft: Keine «Emerging-Region» ist Europa wertemässig näher als Lateinamerika. Uns eint der Glaube an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft. Zudem verbinden uns eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und das christliche Gedankengut. All diese Gemeinsamkeiten machen die Zusammenarbeit nicht nur einfacher, sondern auch berechenbarer.
Global agierende Schweizer Firmen müssen sich aufgrund der geopolitischen Polarisierung Gedanken machen, wo in Zukunft ihre Marktchancen liegen und wie sie stabile Lieferketten erreichen können. Lateinamerika sollte in ihren Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen. Der Zeitpunkt dafür ist ideal. Diese Chance sollten Schweizer Firmen nutzen.
swiss export Webinar
Lateinamerika: «Wenn nicht jetzt, wann dann?»
In unserem einstündigen Webinar werden folgende Schwerpunktthemen behandelt:
– Lateinamerika im geopolitischen Kontext
– Leinamerika als Nearshoring-Standort für den US-Markt
– Lateinamerika als Ressourcenlieferant
Termin
30. Januar 2024, 10.30 bis 11.30 Uhr
Kosten
Mitglieder: kostenlos
Nichtmitglieder: 80 Franken
Anmeldung unter https://swiss-export.com/de/weiterbildung/webinare/lateinamerika-wenn-nicht-jetzt-wann-dann/